Freitag, 1. Februar 2019

Wenn ich vergesslich werde...

Ich hatte einen Traum.

Ich stecke fest, vergesse Termine und verliere wichtige Dinge. Es wird eng in mir, ich gerate in Zeitdruck, muss mich beeilen um ein Flugzeug zu kriegen. Im Traum suche ich und suche und finde die Tickets und meinen Ausweis nicht, die Koffer sind noch nicht gepackt und in einer Stunde muss ich am Flughafen sein.
In einem anderen Traum fahre ich als Beifahrerin in einem viel zu schnellen Auto mit. Ich werde in die Kurve gepresst und das Auto fährt über Stock und Stein, viel zu schnell und plötzlich bleibt es im Sand stecken. Ich bin auf dem Weg zu einer Beerdigung.
Diese Träume haben mich erschreckt und bedrückt und ich versuche zu erforschen was es mit diesen Träumen auf sich hat. Ich setzte mich hin, lasse die Träume in mir passieren und die Gefühle tauchen auf. Körperliche Symptome wie Atemnot, Enge und ein Anflug von Panik wird spürbar und die Angst etwas zu versäumen, etwas vergessen zu haben, die Kontrolle zu verlieren sitzt mir im Nacken. Da lauert die Angst, das Leben nicht mehr in den Griff zu bekommen.
Es entgleitet.
Die Angst abzurutschen greift nach mir. Verlieren, vergessen, zu spät kommen, sich nicht erinnern…
Wo lande ich?
Was passiert mit mir?
Was ist, wenn es Wirklichkeit wird?
Wenn ich nicht mehr weiß wer ich bin, wer meine Kinder sind, wie sie heißen und ob ich überhaupt welche habe.
Was ist wenn ich nicht mehr weiß was ich eben gemacht habe, was ich machen wollte und was ist, wenn ich mich dafür schäme zu vergessen?
Was ist wenn ich meine Umgebung nicht mehr erkenne, ich nicht weiss wo ich bin?
Was ist wenn ich nichts mehr lesen kann, wenn Worte nicht mehr greifen, wenn begreifen nicht mehr ist.
Was ist, wenn ich darüber verzweifelt bin und traurig und weinen muss.
Und wie geht ihr damit um? Ihr anderen, ihr, meine Kinder?
Wie wird es für euch sein?
Wie ist das, wenn ihr auch nicht weiter wisst und was man mit mir tun soll? Brauche ich Pflege und Orientierung?
Muss ich in ein Heim?
Wieviel Zeit wird für mich benötigt, damit ich ein würdiges Leben leben kann, im Vergessen der Welt?
Wie sollt ihr mit mir umgehen?
Was ist zu tun?
Ich habe darüber meditiert, bin damit in die Stille gegangen und ich habe herausgefunden, dass das etwas ist, was mir selber Angst macht.
Ich habe keine Angst vor dem Sterben, vor dem Tod, aber ich habe Angst davor die Welt und mich selbst zu verlieren.
Ich habe Angst vor der Unbeholfenheit, Angst vor der Scham, die mit dem Vergessen einhergeht, Angst zur Last zu fallen, Angst davor euch, meine Kinder nicht mehr zu erkennen. 
 
Ich möchte euch einen Leitfaden mit an die Hand geben.
Einen Leitfaden für den Fall der Fälle.
Weil ich es so in mir spüre, dass dies etwas ist, was mir passieren könnte. Vielleicht spüre ich es auch schon in mir als eine vage Möglichkeit?
Ich weiß es nicht.
Der Impuls, diesen Leitfaden zu schreiben ist so stark und deutlich, dass ich gleich anfange.
Ich bin still geworden mit der Angst vor dem Vergessen. Habe die Panik zugelassen, in mir gespürt, gefühlt. Und ich möchte mitteilen, was ich herausgefunden habe.

Für den Fall des Vergessens.
Was mir zuallererst am wichtigsten erscheint, ist, das es erkannt wird.
Dass jemand mir sagt, was mit mir los ist.
Das es bestätigt wird und ich nicht mehr dagegen ankämpfen muss.
Denn der Kampf gegen das Vergessen und die Verleugnung ist eine bittere Qual. Es sich nicht anmerken zu lassen und so tun als wüsste man, ist eine ungeheure Anstrengung.
Sagt es mir, damit ich mich fallen lassen kann und ich es loslassen kann.
Ich bin dement.
Ich vergesse.
Sagt es mir.
Das ist so wichtig.
Ich werde still werden.
Lasst mich.
Lasst mich in meine Stille und in mein Vergessen abtauchen.
Stille ist gut und wohltuend und die Stille ist nicht das Problem.
Das Problem ist erst dann da, wenn ihr ein Krankheitsbild daraus macht. Versucht nicht mich zurückzuholen, denn das bedeutet weiteres Leiden.
Weil ich dann daran erinnert werde dass mit mir etwas nicht stimmt.
Aber ich weiß es auch so.
Macht mit mir keine Biografiearbeit, denn auch das bedeutet Leiden.
Ich werde an das Vergessen erinnert.
Ich bitte euch, mir meine Ruhe zu lassen. Ich werde an die Oberfläche kommen, ich werde es signalisieren, wenn ich es möchte, wenn es so geschehen soll.
Ich werde euch sehr nah sein, wenn ihr da mit mir seid, wo ich gerade bin. Versucht mit mir still zu sein, mit mir zu schweigen, wenn ich in Stille und im Frieden bin.
Vielleicht sitze ich stundenlang am Fenster und schaue ins Leere.
Das ist gut.
Ich will kein Beschäftigungsprogramm.
Setzt euch zu mir ans Fenster und schaut mit mir hinaus.
Lege deine Hand auf meinen Rücken. Ich spüre sie.
Nehme mich vorsichtig in den Arm. Das beruhigt mich.
Und wenn ich weine, dann lasst mich weinen. Auch das tut gut.
Versucht es auszuhalten oder weint mit mir. Das spüre ich. Das ist Empathie. Mit mir das zu teilen ist Nähe und Fürsorge.
Bitte, wenn ich in einem Heim bin, sorgt dafür, dass niemand laut mit mir spricht und dass niemand in der Kindersprache mit mir redet.
Ich bin eine erwachsene Frau, auch wenn ich dabei bin es zu vergessen.
Sorgt bitte dafür, dass ich nicht unsanft angepackt werde, dass mich niemand erschreckt. Denn wenn man vergisst wo man ist und wer man ist, dann wird man sehr empfindlich und schreckhaft.
Nehmt meine Empfindungen und Regungen ernst. Vielleicht weiß ich keine Worte mehr, kann nicht mehr sprechen, weiß nicht wie man die Dinge benennt, aber ich habe immer noch meine Gefühle.
Die ändern sich nicht.

Gefühle bleiben

Die Gefühle bleiben ein Leben lang.
Schmerz ist immer noch Schmerz und Freude ist immer noch Freude.
Lacht mit mir wenn mir danach ist. Nehmt das Leben nicht so ernst. Vielleicht wird es auch leichter in mir, wenn die Schwere der Erinnerung nachlässt. Vielleicht werde ich ein wenig verrückt und mache seltsame Dinge. Nehmt das nicht allzu ernst. Sollte es so sein, dass ich für andere eine Gefahr darstelle, dass ich andere verletzt, so geschieht dies sicher aus einer Verzweiflung heraus, denn ich bin kein gewalttätiger aggressiver Mensch. Aber dann müsst ihr natürlich dafür sorgen, dass ich niemanden verletze.
Und bitte: Der Vormittag ist mir immer schon heilig und wichtig gewesen.
Ich möchte nicht um sechs geweckt werden. Lasst mir die Möglichkeit zu schlafen solange ich will. Wenn ihr Sorge um mich habt, könnt ihr ja vorsichtig nach mir schauen, aber bitte seid leise und zurückhaltend.
Ich habe gerne Zeit ganz für mich verbracht, bin gerne alleine und das wird sich auch nicht ändern, wenn ich dement bin. Das weiß ich sicher. Ich werde weiterhin meditieren und in Stille sitzen. Bitte stört mir meine Stille nicht.
Es ist nichts Beängstigendes zu sterben. Der Tod und das langsame Verabschieden vom Leben hat doch seine Berechtigung und seine Würde.
Wenn es das Leben so will, dann soll es so sein. Der Tod gehört zum Leben.
Ich vergesse meine Identität, und das ist nicht schlimm. Ich bin dennoch. Existenz lebt auch ohne Identität. Sein ist das Höchste was es gibt.
Wenn die persönliche Identität schwindet, dann kann das unpersönliche Bewusstsein frei werden. Ich bin. Und dazu ist kein Wissen notwendig.
Ich höre gerne Musik. Dabei kann ich wunderbar entspannen. Gebt mir einfach meine CDs mit. Und wenn ihr mir vorlesen möchtet, dann Gedichte von Tagore, Rumi, Khalil Gibran, Rilke, Hermann Hesse, Hilde Domin.
Vielleicht kann ich auf Fragen nicht mehr antworten, aber ich spüre euch, eure Nähe. Fühlt euch keinesfalls gezwungen etwas mit mir unternehmen zu wollen, denn das würde mich belasten. Besucht mich, wenn ihr es möchtet. Geht mit mir spazieren. Und ich mag auch den Regen, vielleicht sogar mehr als die heiße Sonne. Ich mag den Geruch von regennasser Frische. Ich mag den Wald, höre gerne Vogelstimmen.

Wo werde ich sein

Es wird für mich nicht schlimm sein in ein Pflegeheim zu kommen. Sollte ich noch keines ausgewählt haben, dann wäre es schön, ihr würdet eines auswählen. Ich glaube wichtig wäre es, dass es ein Haus wäre, das stressfrei ist, wo die Menschen würdevoll behandelt werden, in dem es gemütliche Ecken und Nischen gibt und in dem ich ein eigenes Zimmer haben kann.
Ist es ein Ort der auch Spiritualität und Fürsorge zulässt?
Gibt es Ansprechpartner oder spirituelle Begleitung?
Wie ist es mit der Sterbebegleitung?
Ich möchte in Frieden und bei Bewusstsein sterben und möglichst medikamentenfrei. Es sei denn, ich habe Schmerzen. Bitte seid auch mit der Dosierung von Morphin zurückhaltend. Sollte die Sterbebegleitung in dem Heim nicht würdig ausreichend sein, möchte ich gerne in ein Hospiz überführt werden.
Ich habe eine Patientenverfügung gemacht, die ich versuche immer auf den aktuellen Stand zu bringen. Ich möchte keine lebensverlängernden Maßnahmen. Ich möchte keine künstliche Ernährung. Wenn ich Durst habe möchte ich, dass mir zu trinken gegeben wird. Ertränkt mich nicht mit Infusionen. Ich möchte eine ausreichende medizinische Versorgung und eine Schmerzlinderung, aber keine bewusstseinstrübenden Medikamente. Ich möchte auch dass alle notwendigen hygienischen Maßnahmen durchgeführt werden.
Ich lehne eine Organspende ab. Ich möchte, dass mir zum Sterben Stille und Zeit gegeben wird, dass mein Geist in Ruhe aus dem Körper austreten kann. Dass meine Organe Zeit zum Sterben haben, dass mein Herz auspulsieren darf so wie es will. Bleibt bei mir, haltet meine Hand ganz still. Sprecht ein Gebet, singt etwas oder lasst ganz leise Musik laufen. Öffnet das Fenster. Frische Luft ist mir immer sehr wichtig. Deckt mich warm zu, vielleicht friere ich. Eine Wärmflasche auf dem Bauch oder im Rücken – nicht zu heiß – gibt Geborgenheit.
Ich habe keine Angst vor dem Tod. Es ist ein Übergang. Macht euch keine Sorgen, dann kann ich leichter gehen. Haltet mich nicht fest. Da wo ich hingehe wird es leicht und schön sein. Ich bin frei.
Nach meinem Tod ist nur noch die Hülle da. Ich habe den Körper ausgezogen wie ein zu eng gewordenes Kleidungsstück. Es passt nicht mehr. Nach meinem Tod ist der Körper nicht mehr ich. Ich bin gegangen. Ich brauche aber Zeit zum Gehen, ich löse mich langsam von meiner Form.
Es ist nicht wichtig was mit dem toten Körper passiert. Macht es so einfach wie möglich. Verbrennt ihn und bestattet die Urne im Friedwald unter einem Baum. Ich will rechtzeitig versuchen für alles zu sorgen. Wenn ihr möchtet dann ladet die Menschen ein, die in den Friedwald zur Bestattung kommen möchten. Ich möchte keine Trauerfeier mit einem Sarg in der Kirche. Spart euch das. Versammelt euch im Wald, wenn ihr möchtet. Das ist mehr als genug. Ich lebe weiter in euch, in meinen Kindern und Enkelkindern und ich bin im Geiste mit euch wo immer ihr seid. Ich bin nicht getrennt von euch, war es noch nie. Auch in der Zeit des Vergessens bin ich mit euch. Auf eine andere Art, aber das was nicht zu trennen ist hat immer seine Wahrheit. Wir waren noch niemals voneinander getrennt.
Deshalb noch einmal: Macht euch keine Sorgen wenn ich an Demenz erkranke. Schwierig ist nur die Zeit wenn es beginnt. Wenn die Welt beginnt fremd zu werden. Wenn ihr etwas bemerkt und nicht sicher seid. Wenn ich unsicher und fahrig werde. Wenn ich versuche zu verstecken und zu verbergen was immer offensichtlicher wird. Vielleicht seid ihr ungeduldig mit mir, vielleicht gibt es eine Zeit des Unverstandenseins. Und wenn dann die Diagnose gefestigt ist, wird es bei euch Erschrecken geben, so wie bei mir auch.
Seid bitte ehrlich mit mir. Redet offen über das was euch ängstigt oder über das was euch auffällt. Dann kann ich vielleicht damit besser umgehen. Es ist ja keine Schande zu vergessen und es hat sich niemand ausgesucht oder gewählt. Das Leben hat es so entschieden. Und wir können das Beste daraus machen.

Was ist das Beste?

Das Beste ist es, wenn man lachen kann. Und das Beste ist es, wenn man weinen kann. Wenn Gefühle sein dürfen. Denn womöglich gibt es keine Kontrolle mehr das Lachen und die Tränen zurück zu halten. Und das Beste ist es, wenn ihr teilhabt, auch wenn ihr es vielleicht nicht versteht. Das tue ich wohl auch nicht mehr. Aber das macht nichts.
Vielleicht liegt das Geschenk einer Demenz-Erkrankung im Fühlen und Spüren, in der Achtsamkeit und darin ganz im Hier und Jetzt zu sein. Quält mich nicht damit mir Erinnerungen eintrichtern zu wollen. Sie sind da oder sie sind nicht da. Ich weiß für euch ist es schwierig und traurig, wenn ich euch nicht erkenne oder euch falsche Namen gebe. Aber das ist doch nur die Oberfläche. Tief in mir weiß ich, weiß ich wer ihr seid, fühle die Verbundenheit. Wir brauchen einfach keine Bestätigung mehr.
Traut euch mit mir ins Vergessen zu gehen. Sitzt mit mir zusammen ohne ein Konzept, lasst euch vom Unbekannten leiten.
Ich weiß, das Unbekannte macht Angst, die habe ich auch und die spüre ich auch trotz des Vergessens. Und wenn ihr mit mir in dieser Angst seid, dann kann es leichter werden. Vielleicht werden wir zusammen auch neugierig auf das was dahinter ist. Hinter dem Vergessen, hinter der Angst, hinter der Welt.

Hinter der Welt

Ich möchte euch dazu einladen die unbekannte Welt mit mir zusammen zu begreifen. Ich kann es nicht mehr. Mein Abrutschen ins Vergessen ist unaufhaltsam. Ich sinke ein in die Unendlichkeit. Der Verstand ist am Sterben, der Körper weilt noch ein wenig in dieser Welt.
Ich bin euch dankbar, wenn ihr für die Bedürfnisse des Körpers sorgt, ihn pflegt und sauber und warm haltet und dass da keine Schmerzen sind. Aber um meinen Verstand macht euch keine Sorgen. Lasst ihn gehen wohin er will. Ich erlebe andere Dimensionen, andere Welten, habe andere Zugänge. Ich kann darüber nicht berichten, kann es euch nicht mitteilen aber es ist gut so. Ich bin in Frieden damit wenn ihr es annehmen könnt. Sorgt euch nicht. Wer weiß, vielleicht ist es wunderschön da wo ich nun bin.
Ich gehe nach und nach aus dieser Welt in ein Paradies. Sozusagen scheibchenweise, Schicht um Schicht.
Nun, wo ich das hier schreibe, bin ich noch klar und habe meinen Verstand unter Kontrolle, auch wenn ich manchmal nicht mehr sicher bin und der Gedanke an eine mögliche Demenz immer wieder von Zeit zu Zeit auftaucht. Ich sorge hiermit vor. Meine Träume sind Signale, die ich ernst nehme. Und ich habe die Möglichkeit und die Erfahrung zu meditieren und in meine Intuition zu gehen, in mein Unbewusstes.
Alles was ich hier schreibe sind Worte aus dem Unbewussten. Ich habe sie nicht reflektiert oder darüber nachgedacht, sie schrieben sich von alleine. Wollten ans Licht.
Es wird auch Zeiten geben wo es mir nicht gut geht, ich körperlich leide, Schmerzen habe, vielleicht Migräne, vielleicht Magenschmerzen. Dann bitte, gebt mit etwas gegen die Schmerzen bis sie vorüber sind.

Ich bin in Frieden und ich bin dankbar für alle Geschenke die ich bekam, für wunderbare tiefe Gespräche mit Freunden, für die Musik und den Tanz und ganz besonders für das Geschenk Kinder und Enkelkinder zu haben.

Ich liebe euch über alles und über den Tod hinaus.

In Liebe
Gina,
Mama ... Amma ... Omi…